Erwachsene brauchen Enttäuschungen
Sie erinnern sich? Letzte Woche habe ich darüber geschrieben, dass Kinder Enttäuschungen brauchen. Das hilft ihnen im späteren Leben. Weil es kein Leben ohne Enttäuschungen gibt.
Wie es der Zufall oder meine selektive Wahrnehmung wollten, bin ich vor ein paar Tagen Zeuge eines interessanten Gesprächs geworden. Ausgerüstet mit Kaffee, Kuchen und einem Stapel Zeitungen saß ich am Samstagvormittag im Caféhaus. Am Nebentisch zwei Frauen. Ausgerüstet mit Kaffee, Kuchen und viel Gesprächsstoff. Es ging, wie so oft, um ihre Beziehungen. Ich wurde ungewollt Zeuge intensiver Geständnisse und Beschwerden. Nicht, weil ich meine Ohren so gespitzt hätte, sondern weil die Erzähllaut-stärke mit zunehmender Emotionalität zunahm. Einmal ging ich sogar aufs WC, um nicht alles mitzubekommen. Danach war’s dann auch wieder ruhiger. Aber ein Satz hat sich bei mir ganz besonders eingeprägt: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie mich der Kerl enttäuscht hat!“. Das war dann Anlass genug für mich die Zeitungen zurückzulegen, zu
bezahlen und einen
Spaziergang an der
Sonne zu machen.
Dabei hätte ich der Frau ja eigentlich gratulieren sollen. Was hätte ihr Besseres passieren können? Endlich ist sie ihre Täuschung los. Offenbar kränkt der „Kerl“ sie schon lange. Zumindest wenn ich den Schilder-ungen davor Glauben schenken darf. Endlich hat er dem Fass den Boden ausgeschlagen und sie unendlich enttäuscht. Das ist doch eine große Chance. Wir müssen uns nicht mehr länger einer Illusion hingeben, die da lautet: Mein Partner (Sie können gerne auch eintragen: Meine Partnerin) ist der feinste, liebste und tollste Mensch, den ich kenne. Und ich die
Einzige für ihn.
Und im Übrigen haben Sie Recht: Natürlich ist das schön. Wer von uns möchte das nicht. Aber wenn dem nicht so ist? Dann doch besser Klarheit und endlich ein Leben ohne diese ständigen Täuschungen. In diesem Sinne: Ein Hoch den Enttäuschungen.
In „Kopfstücke“ hat der
Gastkommentator Peter Kopf Raum
für seine persönliche Meinung.
Diese muss nicht mit der der
Redaktion übereinstimmen.