Von Angst zu Lebensfreude

Kann nach langer Zeit wieder befreit lachen: Autor Semih Morel. Fotos: Nina Bröll
Semih Morel aus Gaißau wollte stets noch besser werden, noch mehr erreichen – bis er nicht mehr konnte. Jetzt hat er mit „Heute ist gut genug“ ein Buch darüber geschrieben, mit dem er auch anderen Betroffenen helfen will.
Plötzlich hat Semih Morel ein mulmiges Gefühl im Bauch. Von dort aus steigt es in die Brust, verbreitet sich im ganzen Körper, sein Atem wird schneller und flacher, seine Gedanken malen das Schlimmste aus. Er hat Angst, die Kontrolle zu verlieren. Semih hat eine Panik-attacke.
Und obwohl er weiß, dass es nur eine Überreaktion seines Nervensystems ist, glaubt er fest daran, nun sterben zu müssen. Wie jedes Mal in solch einer Situation. Semih erinnert sich gut an den Morgen im Herbst 2019. „Das war mit Abstand die schlimmste. Bei dieser Panikattacke habe ich mir zum ersten Mal überlegt, wie ich mich noch von allen verabschieden kann, bevor ich sterbe“, erzählt der Gaißauer. Die Panikattacke an jenem Morgen war nicht die erste in Semihs Leben, doch war sie ein Wendepunkt.
Perfektion ist ein
unerreichbares Ziel
„Rückblickend ist mir klar, woher meine Panikattacken kamen“, sagt Semih im Gespräch mit WANN & WO. Der 32-Jährige sitzt in seinem Büro eines Co-Working Spaces in Dornbirn, von wo aus er seine Arbeit als Persönlichkeits- und Organisationsentwickler gestaltet. „Ich habe mein Leben lang nach einem sinn- und bedeutungsvollen Leben gestrebt. Habe stets versucht, eine bessere Version von mir selbst zu werden. Und hatte ich diese erreicht, war eine noch bessere Version das Ziel. Bei dem ganzen Selbstoptimierungswahn habe ich aber etwas wichtiges vergessen – zu leben.“
Die Panikattacken waren nicht die einzigen Botschaften seines Körpers. „Die letzten 15 Jahre kamen immer mehr Symptome dazu. Tinnitus, Herzrasen und -stolpern, jahrelanger Dauerschwindel, Reizdarm, Darmentzündungen“, erzählt Semih. „Das schlimmste war aber die Angst. Die Angst, dass eines dieser Leiden plötzlich losfeuern konnte.“ Unternehmungen und Treffen mit Freunden und Familie reduzierte er deshalb auf das Nötigste. „Die Angst davor, mich zu blamieren, war einfach zu groß.“
Reden ist unerlässlich
Der Weg aus der Angst und Panik ist selten ein einmaliges Ereignis, vielmehr ist er ein Prozess, sagt Semih. „Der erste Schritt ist es, uneingeschränkte Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Ich musste lernen, dass ich kein Opfer meiner Angst bin, sondern nur selbst da raus finden kann“, stelle Semih fest. „Das Zweitwichtigste ist, sein Leben, seine Beziehungen und Handlungsmuster reflektieren zu lernen. Dafür braucht es meistens zuerst einmal Hilfe von außen.“
Dabei habe er sich in seinem Prozess sehr oft alleine gefühlt. Bis er irgendwann damit anfing, darüber zu sprechen. „Als ich begann, über meine Ängste zu sprechen, öffneten sich nach und nach auch die Menschen in meinem Umfeld. Schnell wurde mir klar: Ich bin nicht alleine, sondern einer von sehr vielen“, schildert Semih. „Es betrifft alle Gesellschafts- und Altersgruppen, von der Top-Managerin bis zum Schüler. Wir können das Thema nicht nur im stillen Kämmerlein besprechen.“
Raus aus dem Stigma
Obwohl psychische Störungen bereits der zweithäufigste Grund für Arbeitsausfälle sind, sind Ängste, Sorgen und Panik vielerorts immer noch ein Tabuthema. „Als ich vor fast vier Jahren begann, mein Buch zu schreiben, war ich mir sicher, es niemals veröffentlichen zu können“, gesteht der Autor. „Zu groß war die Angst vor Ablehnung und Bewertung durch die Öffentlichkeit.“
Semih erinnert sich an den Moment im September dieses Jahres, als er die ersten Paletten seines Buches „Heute ist gut genug“ geliefert bekam: „Als ich mein Buch zum ersten Mal in den Händen hielt, war mir jedoch sofort klar, ich bin eben wer ich bin, mit all meinen Stärken und Schwächen. Mehr als das, was ich bin, habe ich nicht zu bieten. Und das muss genug sein. Nein – das ist genug.“
Dabei könne jede und jeder helfen, das zu realisieren, ist sich Semih sicher: „Seid lieb zueinander – wir alle haben unser Päckchen
zu tragen.“

Vier Jahre Arbeit (und unglaublich viel Erfahrung) stecken in Semihs Buch „Heute ist gut genug“, das kürzlich im Selbstverlag erschienen ist.
«Ich war sicher, das Buch nie zu veröffentlichen. Zu groß war die Angst vor Ablehnung und Bewertung.» Autor Semih Morel
«Ich wollte stets besser werden. Bei dem ganzen Selbstoptimierungswahn habe ich etwas wichtiges vergessen – zu leben.» Autor Semih Morel
Dir geht es nicht gut?
Hier findest du Hilfe!
„Reiß dich zusammen“ oder „beiß dich durch“ sind bei ernsten Angstgefühlen, Panikattaken und körperlichen Symptomen die ganz falsche Herangehensweise. Sich dann Hilfe von außen zu holen, ist nicht nur keine Schande, sondern sogar das absolut Richtige.
Ein Ansprechpartner in Vorarlberg
kann dann etwa das Institut für
Sozialdienste (ifs) sein, das ggf. auch weitervermitteln kann. Alle
Kontaktadressen im ganzen Land unter: www.ifs.at.