„Meine Tochter und ich werden immer leiden“

Eine natürliche, innige Beziehung zu ihrem Kind – das war Melanie (Bild) nicht vergönnt.
Foto: Melanie; Symbolfoto: APA
Die Geschichte von Anna*, die mit 15 Jahren bewusst Mutter wurde, erregte große Aufmerksamkeit – und dabei besonders auch ihre Bemerkung über Gewalt im Kreißsaal. Damit ist sie leider alles andere als allein. Auch Melanie* aus Vorarlberg erlebte Gewalt unter der Geburt.
Seit zwei Tagen schon liegt Melanie in den Wehen. Es ist ihr zweites Kind, sie weiß, wie eine Geburt abläuft und wie sie sich anfühlt. Und sie weiß: Dieses Mal stimmt etwas nicht. Seit Stunden geht der Geburtsprozess nicht voran, das Baby kommt nicht, scheint mit seinen über drei Kilo nicht durch das schmale Becken der zierlichen 46-Kilo-Frau zu passen. Melanie bittet, bettelt regelrecht, um einen Kaiserschnitt. Doch man erhört sie nicht. Stattdessen halten jetzt vier Krankenschwestern Melanies Arme und Beine fest, der Arzt versucht, das Kind mit der Saugglocke zu holen. Doch es funktioniert nicht, noch immer bewegt sich nichts. Melanie sieht, wie der Arzt seine Arme hebt, den Blick auf ihren Bauch richtet – und zuschlägt. Der sogenannte Kristeller-Handgriff, der bei einer Saugglocken-Geburt angewendet wird. Nur wurde Melanie weder vorgewarnt noch darüber aufgeklärt. „Der Schmerz war unbeschreiblich, es gibt keine Worte dafür“, erinnert sich die heute 24-Jährige im Gespräch mit WANN & WO. Und: „Wenn ich an die Geburt zurückdenke, fühle ich ihn heute noch.“ Doch der körperliche Schmerz ist nicht alles: „Als ich aufschrie, fuhren die Schwestern mich an, dass ich das ja gar nicht spüren könne. Ich hätte ja schließlich eine PDA bekommen“, sagt Melanie. „Mir auf diese Weise meine Gefühle abzusprechen, das war einfach respektlos und übergriffig. Das war psychische Gewalt.“
Schmerzmittel verweigert
Was Melanie erlebt hat, ist kein Einzelfall, wie auch Bernadette Breiskorn, Leiterin der Landesgeschäftsstelle Vorarlberg des Österreichischen Hebammengremiums, weiß (siehe „3 Fragen an“). Und anders als der Begriff „Gewalt im Kreißsaal“ vermuten lässt, beginnt sie schon viel früher – so auch bei Melanie.
„Als ich mit Wehen ins Krankenhaus kam und meine Fruchtblase platzte, hat man mich erst einmal nach draußen zum Spazieren geschickt. Obwohl mich die Schmerzen bereits fast umhauten und meine ganze Kleidung nass war“, klagt die Mutter. „Später habe ich gesagt, dass ich eine PDA möchte, weil ich die Schmerzen nicht aushalte. Da hat man mir Buscopan gegeben, ein pflanzliches Mittel gegen Magenverstimmungen.“ Die Geburt musste sie dann schließlich alleine durchstehen – ohne ihren Mann. „Man sagte mir, dass er nicht in den Kreißsaal kommen wolle. Später erfuhr ich von ihm, dass ich gesagt habe, ich wolle ihn nicht dabei haben. Das ist einfach nicht wahr.“
Schwere Bindungsstörung
Und auch nach der Geburt endete das Martyrium der jungen Mutter nicht. „Mein Genitalbereich war komplett aufgerissen und musste genäht werden. Da ich so nicht auf Toilette konnte, musste mir ein Katheter gelegt werden“, berichtet Melanie. „Die Krankenschwester stach mir mit dem Schlauch viermal in die frische Wunde, ich schrie vor Schmerz, ehe sie endlich den Arzt dazurief.“
Ausgestanden ist das traumatische Erlebnis für Melanie auch drei Jahre später noch nicht. „Es bringt mich beinahe um, das zuzugeben, aber: Ich habe meine Tochter abgelehnt. Ich wollte sie nicht“, gesteht Melanie. „Noch heute ist unsere Bindung gestört. Ich liebe sie, klar. Aber wie mit meiner ersten Tochter, so natürlich und unbeschwert, ist es nicht.“
Heute weiß die junge Mutter, dass das Trauma der Geburt zu der Bindungsstörung geführt hat. „Das war aber am Anfang nicht so“, entsinnt sie sich. „Damals machte ich mich selbst dafür verantwortlich, dachte, dass mit mir etwas falsch sei. Mittlerweile weiß ich, dass ich Gewalt im Kreißsaal erlebt habe, dass ich eine posttraumatische Belastungsstörung und infolgedessen eine Depression entwickelte – und dass meine Tochter und ich unser Leben lang darunter leiden werden.“
Denn bereits heute verhält sich das Kind auffällig. Es ist stiller und ernster als andere und extrem anhänglich. „Sie einmal abgeben oder in die Spielgruppe bringen, funktioniert gar nicht. Ich muss rund um die Uhr für sie da sein. Mein Mann muss sogar das Bett verlassen, damit sie bei mir allein schlafen kann. Anders kommt sie nicht zur Ruhe“, sagt Melanie. „Ich habe aus den drei Jahren, die sie jetzt auf der Welt ist, nur etwa fünf Fotos, auf denen sie lacht. Das ist doch nicht normal.“ Auch Melanies ältere Tochter bekommt alles mit: „Meine Fünfjährige fragt mich manchmal: ‚Mama, hasst du meine kleine Schwester immer noch?‘ Es tut weh, dass sie so etwas denkt.“
Aufklären und Mut machen
Melanie hofft, dass sie mit ihrer Geschichte über Gewalt im Kreißsaal aufklären und anderen Betroffenen Mut machen kann. „Meine Tochter ist perfekt, so wie sie ist. Sie kann nichts für diesen schwierigen Start in ihr Leben. Aber sie wird immer damit zu kämpfen haben.“ Und nicht nur sie: „Bei der Geburt ist etwas in mir gestorben.“
*Name geändert, aber der
Redaktion bekannt

Eine natürliche, innige Beziehung zu ihrem Kind – das war Melanie nicht vergönnt. Symbolfoto: APA

Mit Blumen aufmerksam machen: „Roses Revolution“
Um auf Gewalt bei der Geburt aufmerksam zu machen, hat sich die Initiative „Roses Revolution“ gegründet. Jedes Jahr am 25. November legen Frauen dabei rosafarbene Rosen vor die Kreißsaaltüren, hinter denen ihnen Gewalt angetan wurde, und setzen ein Zeichen gegen Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe. Wer mag, schreibt einige erklärende Zeilen dazu und macht ein Foto, welches über soziale Netzwerke verbreitet wird und die Aktion dokumentiert. Zusätzlich werden anonym Geburtsberichte veröffentlicht. Foto: Roses Revolution

Hier finden Betroffene Hilfe
Bei Fragen und Problemen im Zusammenhang mit Schwanger-schaft und Geburt ist das Projekt schwanger.li ein möglicher Anlaufpunkt. Die ExpertInnen unterstützen online und auch
persönlich in der Beratungsstelle in Feldkirch. Weitere Infos
und Kontaktdaten unter: www.schwanger.li Symbolfoto: APA